OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2000, Az. 4 U 53/00

Tenor:

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Ulm/Donau vom 18.02.2000 – 3 O 12/00 abgeändert:

a) Die Klage wird abgewiesen.

b) Auf die Widerklage wird

aa) der Kläger verurteilt, an die Beklagte 35.590,– DM nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank seit 14.12.1999 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Kraftfahrzeugs VW-Golf, amtliches Kennzeichen Fahrgestell-Nr.: WVWZZZ1JZYP378600;

bb) festgestellt, dass sich der Kläger seit 10.12.1999 in Annahmeverzug befindet.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Streitwert der Berufung und Beschwer des Klägers: 36.990,-DM (Klagantrag Ziff. 1: 35.990,– DM; Klagantrag Ziff. 2: 1.000,– DM).

Tatbestand:

Die Parteien machen mit Klage und Widerklage Erfüllungsansprüche aus einem Kaufvertrag geltend.

Der Kläger hat mit schriftlichem Vertrag vom 17.11.1999 (Bl. 4) bei der Beklagten, einer VW-Vertragshändlerin, einen Neuwagen VW-Golf IV, 1,4 Generation 4 D, 55 kw, Lackierung Black-Magic Perieffekt mit blau-flanellgrauer Ausstattung, 4 Türen, Klimaanlage “Climatronic”, Technikpaket und Winterpaket incl. ESP, Überführung und Kfz-Brief-Gebühr zum Preis von 35.990,– DM bestellt.

Da der Kläger die übliche Lieferzeit von 8 Wochen nicht abwarten wollte, haben die Parteien weiter vereinbart, dass die Beklagte ein bei einem VW-Vertragshändler in M stehendes Neufahrzeug VW-Golf, das alle vereinbarten Ausstattungsmerkmale aufwies, besorgen und am 26.11.1999 – bereits auf die Ehefrau des Klägers zugelassen – an den Kläger übergeben sollte.

Die Beklagte hat das Fahrzeug am 26.11.1999 von seinem ursprünglichen Standort in M nach E mit rotem Kennzeichen auf eigener Achse überführt, noch am selben Tage auf die Ehefrau des Klägers zugelassen und dem Kläger telefonisch mitgeteilt, dass das Fahrzeug zur Abholung bereit stehe. Der Kläger hat jedoch die Abholung des Fahrzeugs verweigert, nachdem er erfahren hatte, dass der Tachometer durch die Überführungsfahrt bereits einen Kilometerstand von 452 km aufwies.

Mit Rechnung vom 27.11.1999 hat die Beklagte dem Kläger den vereinbarten Kaufpreis in Rechnung gestellt. Mit Schreiben vom 01.12.1999 hat sie den Kläger nochmals die Bereitstellung des Fahrzeugs angezeigt. Der Kläger hat mit Telefax vom 01.12.1999 die Abnahme des Fahrzeugs nur gegen einen großzügigen Nachlass, den er mit weiterem Schreiben vom 03.12.1999 mit 5.398,50 DM beziffert hat, angeboten, was die Beklagte jedoch abgelehnt hat.

Der Kläger hat vorgetragen:

Bei dem von der Beklagten angebotenen Fahrzeug handele es sich aufgrund der zurückgelegten Fahrtstrecke von 452 km um kein Neufahrzeug mehr. Durch die Ingebrauchnahme habe es seine Neuwageneigenschaft verloren. Die Beklagte könne deshalb ihre Lieferverpflichtung aus dem Kaufvertrag mit diesem Fahrzeug nicht erfüllen.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger das von ihm mit Kaufvertrag vom 17.11.1999 bestellte Neufahrzeug Pkw VW WGE/EOB/RBA Golf IV, 1,4 Generation, 4 D, 55 Kw, Lackierung Black-Magic Perleffekt mit blauflanellgrauer Ausstattung, 4 Türen, Klimaanlage “Climatronic”, Technikpaket und Winterpaket 175/808 14 LM incl. ESP Zug um Zug gegen Zahlung von 35.990,- DM zu liefern und zu übereignen;

2. festzustellen, dass die Beklagte sich mit der Lieferung und Übereignung des Fahrzeugs seit 26.11.1999 in Verzug befindet.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Im Wege der Widerklage hat sie beantragt,

1. den Kläger zu verurteilen, an die Beklagte 35,590,- DM nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank hieraus seit 14.12.1999 Zug um Zug gegen Übertragung des Eigentums am Kraftfahrzeug VW Golf, amtliches Kennzeichen Fahrgestell-Nr.: VVVWZZZIJZYP378600 zu zahlen;

2. festzustellen, dass sich der Kläger seit dem 10.12.1999 in Annahmeverzug befindet.

Die Beklagte hat vorgetragen,

die Parteien hätten nicht vereinbart, dass der Kläger ein Fahrzeug ohne jegliche Kilometerleistung erhalten sollte. Der Kläger habe bereits bei der Bestellung des Fahrzeugs gewusst, weiches Fahrzeug er erhalten werde. Sein Erfüllungsanspruch habe sich deshalb auf dieses ihm angebotene Fahrzeug konkretisiert. Überdies habe das Fahrzeug durch die Überführungsfahrt seine Neuwageneigenschaft nicht verloren.

Durch das der Beklagten am 06.03.2000 zugestellte Urteil vom 18.02.2000 hat das Landgericht der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen, da es sich bei den zwischen den Parteien geschlossenen Kaufvertrag um einen Gattungskauf handele, der Kläger danach Anspruch auf Lieferung eines Neuwagens habe, die Beklagte jedoch keinen Neuwagen angeboten habe, da das Fahrzeug durch die Überführung auf eigener Achse von M zur Beklagten nach E zu Verkehrszwecken gebraucht worden und deshalb nicht mehr neu sei.

Hiergegen richtet sich die am 20.03.2000 eingelegte und mittels eines am 03.04.2000 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatzes begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte trägt vor,

bei dem Kaufvertrag vom 17.11.1999 handele es sich nicht um einen Gattungskauf, sondern um einen Stückkauf, da der Kaufvertrag unter Berücksichtigung der Sonderausstattungen des bei dem VW-Vertragshändler in M stehenden Fahrzeugs geschlossen worden sei.

Die Beklagte sei nach dem Kaufvertrag nicht verpflichtet gewesen, dem Kläger einen Neuwagen ohne oder mit nur ganz geringer Kilometerlaufleistung bereitzustellen.

Bei dem bereitgestellten Kraftfahrzeug habe es sich um ein Neufahrzeug gehandelt, da es lediglich zum Zwecke der Überführung mit rotem Kennzeichen bewegt und danach vereinbarungsgemäß auf die Ehefrau des Klägers zugelassen worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Ulm vom 18.02.2000 wie folgt abzuändern:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger wird verurteilt, an die Beklagte 35.590,– DM nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank hieraus seit 14.12.1999 Zug um Zug gegen Übertragung des Eigentums am Kraftfahrzeug VW Golf, amtliches Kennzeichen Fahrgestell-Nr.: VVVWZZZ1JZYP378600 zu zahlen.

3. Es wird festgestellt, dass sich der Kläger seit dem 10.12.1999 in Annahmeverzug befindet.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass es sich bei dem dem Kaufvertrag vom 17.12.1999 zugrundeliegenden Rechtsgeschäft um einen Gattungskauf handele und der von der Beklagten angebotene Pkw durch die Überführungsfahrt seine Neuwageneigenschaft verloren habe:

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das angefochtene Urteil und die Sitzungsniederschriften verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und auch in der Sache begründet.

Zur Klage:

1.

Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 433 Abs. 1 BGB auf Lieferung eines nur gattungsmäßig bestimmten Pkw VW Golf IV mit den im Kaufvertrag erwähnten Ausstattungsmerkmalen. Denn selbst wenn es sich bei dem zwischen den Parteien geschlossenen Kaufvertrag nicht um einen Stückkauf, sondern um einen Gattungskauf handeln sollte, hätte sich die Leistungspflicht der Beklagten nach § 243 Abs. 2 BGB auf den bereits auf die Ehefrau des Klägers zugelassenen Pkw VW Golf mit amtlichem Kennzeichen konkretisiert, da es sich bei diesem Fahrzeug um einen Neuwagen mittlerer Art und Güte mit den vertraglich vereinbarten Ausstattungsmerkmalen handelt, der von der Beklagten ausgesondert und dem Kläger in Annahmeverzug begründender Weise angeboten wurde.

a)

Das Fahrzeug hat durch die Überführungsfahrt mit rotem Kennzeichen von dem VW-Vertragshändler in M zur Beklagten nach E seine Neuwageneigenschaft nicht verloren. Unter einem Neufahrzeug versteht man üblicherweise ein Kraftfahrzeug, das bis zum Zeitpunkt der Veräußerung seinem bestimmungsgemäßen Gebrauch als Verkehrsmittel noch nicht zugeführt worden ist. Dabei stellt die vom Händler veranlasste oder durchgeführte Überführungsfahrt, unter der man die Fahrt mit eigener Motorkraft vom Herstellungsort zum Verkaufsort mit rotem Kennzeichen versteht, keine Ingebrauchnahme zu Verkehrszwecken dar (BGH, BB 1967, 1268; BGH, DB 1980, 780; BGH, DB 1980, 1836; OLG Hamm, NZV 1993, 151; LG Aachen, NJW 1978, 273; Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl., § 459, Rn. 299; Münchner Kommentar zum BGB/Westermann, 3. Aufl., § 459, Rn. 39; Staudinger/Honsell, BGB, 13. Bearb., § 459, Rn. 90; Reinking/Eggert, Der Autokauf, 6. Aufl., Rn. 3).

Nach dieser Definition hat der dem Kläger angebotene Pkw VW Golf seine Neuwageneigenschaft durch die Fahrt, von M nach E nicht verloren.

Denn es handelt sich hierbei um eine von der Beklagten als VW-Vertragshändlerin durchgeführte Überführungsfahrt mit rotem Kennzeichen. Dass das Fahrzeug nicht schon bereits von seinem Herstellungsort in Wolfsburg mit eigener Motorkraft, sondern erst – nach einem Zwischenaufenthalt bei einem anderen VW-Vertragshändler – von M auf eigener Achse weiter zur Beklagten überführt worden ist, vermag eine andere rechtliche Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Denn wenn das Fahrzeug selbst bei Zurücklegung der gesamten Strecke von W nach E mit eigener Motorkraft seine Neuwageneigenschaft nicht verliert, muss dies erst recht gelten, wenn es nur auf einem Teilstück zwischen Herstellungsort und Verkaufsort auf eigener Achse überführt wird.

Allerdings kann nach Auffassung des Senats der Begriff der Überführungsfahrt nicht losgelöst von der zurückzulegenden Fahrtstrecke gesehen werden. Soweit hierzu früher teilweise die Auffassung vertreten worden ist, Überführungsfahrten seien bis zu einer Entfernung von 10.000 km zulässig und ohne Einfluß auf die Neuheit eines Kraftfahrzeugs (Nachweise bei Reinking/Eggert, a.a.O., Rn. 3), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Bei einer durchschnittlichen Gesamtlaufleistung heutiger Kraftfahrzeuge von etwa 200.000 km ist jedoch die von der Beklagten zurückgelegte Überführungsstrecke von etwa 450 km noch im Rahmen dessen, was üblicherweise unter einer Überführungsfahrt zu verstehen ist. Der Senat orientiert sich dabei an der im Schadensrecht für die Unfallregulierung auf Neuwagenbasis entwickelte 1000-km-Grenze (Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl., § 251, Rn. 14 m.w.N.), die hier nicht überschritten ist.

b)

Die Leistungspflicht der Beklagten hat sich jedenfalls nach § 243 Abs. 2 BGB auf den angebotenen Pkw konkretisiert. Denn die Beklagte hatte das Fahrzeug vertragsgemäß von M überführt, auf die Ehefrau des Klägers zugelassen und am 26.11.1999 sowie am 01.12:1999 dem Kläger mitgeteilt, dass das Fahrzeug zur Abholung bereit steht. Dies hat der Kläger mit Telefax vom 01.12.1999 zu den vertraglich vereinbarten Konditionen abgelehnt. Damit ist er nach § 295 BGB in Annahmeverzug geraten, so dass Konkretisierung nach § 243 Abs. 2 BGB selbst dann eingetreten ist, wenn es sich bei der Lieferpflicht der Beklagten um eine Bringschuld gehandelt haben sollte (Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl., § 243, Rn. 5).

Die Klage war daher abzuweisen.

 

II.

Zur Widerklage:

1.

Aus den obigen Ausführungen folgt zwangsläufig, dass der Kläger nach § 433 Abs. 2 BGB verpflichtet ist, den vereinbarten Kaufpreis Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des von der Beklagten angebotenen Fahrzeugs zu zahlen. Da die Beklagte anstatt des vereinbarten Kaufpreises von 35.990,– DM nur 35.550,– DM geltend gemacht hat, konnte ihr nur dieser Betrag zugesprochen werden (§§ 308 Abs. 1, 536 ZPO).

2.

Das Rechtsschutzbedürfnis für den Feststellungsantrag folgt aus §§ 756, 765 ZPO.

 

III.

Nebenentscheidungen:

1.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286 Abs. 1, 288 BGB i.V.m. Ziff. III Nr. 6 der Allgemeinen Verkaufsbedingungen der Beklagten. Die Zinsen haben sich jedoch abweichend vom Klagantrag nicht am Bundesbankdiskontsatz, sondern am Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank zu orientieren, da der Bundesbankdiskontsatz gem. Art. 1 EuroEG (Bundesgesetzblatt 1998 Teil 1, Seite 1242) seit 01.01.1999 durch den Basiszinssatz ersetzt worden ist.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

 

IV.

Streitwert/Rechtsmittelbeschwer:

1.

Für die Festsetzung des Gebührenstreitwerts war nach § 19 Abs. 1 Satz 3 GKG der höhere Wert der Klage maßgebend, da Klage und Widerklage den selben Gegenstand betreffen.

Dies ist nach zutreffender Rechtsansicht dann der Fall, wenn die Ansprüche aus Klage und Widerklage nicht in der Weise nebeneinander bestehen können, dass das Gericht beiden Ansprüchen stattgeben könnte (BGH, NJW 1994, 3292 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Denn die Klage auf Lieferung eines nur gattungsmäßig bestimmten Pkw und die Widerklage auf Zahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Lieferung eines ganz bestimmten Pkw schließen einander in der Weise aus, dass die Stattgabe der Klage zwangsläufig die Abweisung der Widerklage nach sich zieht und umgekehrt.

2.

Gleiches gilt für die Rechtsmittelbeschwer (BGH, aaO, 3292).

Worum geht es in dem Urteil?

Im vorliegenden Urteil hatte das Oberlandesgericht über die Frage zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein Fahrzeug “fabrikneu” und daher ein “Neuwagen” ist. Nach Auffassung des Gerichts ist das Fahrzeug auch dann fabrikneu, wenn ein über eine Überführungsfahrt von 452 Kilometern mit einem rotem Kennzeichen zurückgelegt wurde.

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